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Aus den Aufzeichnungen Emilio Persichettis.)


22. September 1976


Cente


Cente, diese am sanften Ausklingen des Apennin liegende, bereits eine Ahnung vom Meer ausatmende Stadt, war früher jenes Bild, das sich auftat, wenn einer träumte von einem Leben, das nur ein Traum sein konnte. Wenn einer sehnsüchtig den Namen des Ortes ganz leise in die Nachtluft hinaus hauchte, und ihn dann wie ein Decke über sich zog, um die Mühsal des Alltags zu vergessen, um sich an der Vorstellung von der Stadt zu wärmen.

Über Jahrhunderte schrieb sich Cente als Handelsstadt, als Stadt der Kunst, des Denkens, als Stadt des Kochens und des Essens, als Stadt der Landwirtschaft, als Stadt des Handwerks und auch als Stadt der Gastfreundschaft ein ins Buch der Geschichte dieses Landes.

Und irgendwie ergab es sich, dass es innerhalb der Jahrhunderte in Cente niemals auch nur einem einzigen Einwohner an etwas fehlte. Das mag zum einen wohl in der Genügsamkeit der Menschen begründet sein. Aber zum anderen auch und vor allem in der gutherzigen Gesinnung, die es nicht zuließ, auf andere zu vergessen.

Der Zustand des Landes war einmal besser und einmal schlechter während so langer Zeit.

Kriege kamen auf Pferden und reisten in Flugzeugen weiter.

Epochen zogen herein, färbten das Land, machten ihren Eintrag und verließen Cente wieder.

So habe ich den Ort vorgefunden als ich zu Fuß zum ersten Mal durch das Stadttor trat.

Etwas fiel mir damals aber sofort auf: Die große Zahl der Bettler.

Und dass sie so guter Dinge waren.

Genauso wie die Bewohner Centes.

Ich setzte mich in eine Bar und trank einen Krug Wasser.

Ich habe zu Beginn meiner Reisen herausgefunden, dass man alles über einen Ort erfahren kann, ohne mit irgendjemandem zu sprechen, ohne irgendjemanden auszufragen, wenn man sich in eine Bar begibt und einfach zuhört.

Und lange genug Zeit hat, in den Menschen und ihren Gesprächen zu lesen.

Ich erfuhr am Tag meiner ersten Ankunft also folgendes über Cente: Dass einmal ein paar Bettler kamen, als die Zeiten anfingen schlechter zu werden. Und die Menschen in Cente nahmen sie auf, teilten ihr Essen mit ihnen, ihre Kleidung, ihre Zeit.

Das sprach sich herum und weitere Bettler zogen in Cente ein. Bis auf jeden Einwohner ein Bettler kam.

Alle spürten, als dieser Zustand erreicht war, dass ein gläsernes, schönes aber zerbrechliches Gebäude entstanden war.

Um es aufrecht zu erhalten, teilten die Menschen in Cente ihre Arbeiten auf. Wurde der Schuster krank, sprang einer der Bettler, welcher eine Hand für diese Arbeit hatte, für ihn ein, während der kranke Schuster zuhause in seinem Bett die eigentliche Aufgabe des Bettlers übernahm so gut er eben angesichts seiner Erkrankung konnte.

Wenn ich die Gespräche in der Bar richtig gelesen habe, hat sich daraus bald eine Symbiose entwickelt, in welcher es keine feste Zuordnung für die Menschen des Ortes, für die Bewohner also und die Bettler mehr gab.

Ein Bettler ging in den Weinberg, um die Reben zu schneiden, während der Weinbauer sich eine Decke auf den Brunnenrand legte und den ganzen Vormittag dort saß und die Vögel beobachtete. Die Näherin gesellte sich zu ihm, weil eine der bettelnden Frauen die Arbeit für sie machte.

Das habe ich über Cente erfahren, in der Bar in den Menschen und ihren Gesprächen lesend.

Ich hielt mich jedoch nicht länger auf, reiste schon am Nachmittag weiter.


Nachtrag, 16. Dezember 1984


Vor wenigen Tagen verschlug es mich noch einmal nach Cente.

Ich hatte nichts mehr über den Ort gehört, und wirklich, ich erinnerte mich erst an ihn, als ich das Stadttor durchschritt, einen ersten Atemzug des Ortes nahm und im selben Moment den Platz wiedererkannte, auf dem die Bettler saßen.

Mehr als bei meinem so lange zurückliegenden ersten Besuch. Die Geschäfte allerdings waren geschlossen.

Die Auslagenscheiben zerbrochen, die Schilder hingen herab.

Die Fassaden der Häuser waren mit der Zeit stumpf geworden, doch das kümmerte keinen.

Die Bettler waren in sich zusammengesunken, blickten nicht einmal auf, als ich über die Piazza ging.

Ich suchte nach der Bar von damals, ich fand allerdings nur einen ausgehöhlten dunklen Raum, der mir entsetzt entgegen starrte. Im Ort konnte ich mir also keine Aufklärung über das, was mit und in Cente geschehen war, erhoffen, weil es keine Gespräche gab, in welchen ich lesen konnte.

Ich machte also kehrt und ging hinunter nach Perla. Stellte mich dort in die Bar, um al banco einen Grappa zu trinken. Und um vielleicht herauszufinden, was mit dem Nachbarort Cente geschehen war.

Dort erfuhr ich, dass die Symbiose in Cente eine Zeitlang gut funktionierte, solange auf jeden Einwohner ein Bettler kam und die Menschen sich in ihren Aufgaben abwechselten.

Dann passierte es aber, dass ein Bauer, der am Rand von Cente Artischocken anbaute, er war damals noch keine vierzig Jahre alt, überraschend verstarb.

Während des Schlafes, nachts.

Sein Tod blieb vorerst unbemerkt.

Plötzlich lebte ein Bettler zuviel in Cente, dadurch kippte das System. Wie ich den Gesprächen in der Bar von Perla entnahm, ging es rasch wie ein Feuer.

Armut legte sich auf Cente wie ein schweres Tuch.

Trieb die Menschen aus ihren Häusern und setzte sie auf die Straße zu den Bettlern.


Nachtrag, 12. Februar 1997


Ich weiß nicht, wie die Geschichte des Ortes sich weiter geschrieben hat. Natürlich denke ich darüber nach, mich noch einmal auf den Weg zu machen. Denn immer wieder denke ich gerade in letzter Zeit an Cente und seine seltsame Symbiose, die zu filigran war für die Wirklichkeit der Welt.

Aber vielleicht schiebe ich diesen Gedanken vor mich her, weil ich befürchte, dass es kein Zurück für diesen Ort gibt.

Dass die Zeit die eigentliche Idee von Cente endgültig überschrieben hat.

Ich fürchte, dass die triste, aussichtslose Situation, mit welcher ich bei meinem letzten kurzen Aufenthalt konfrontiert gewesen bin sich weiter und weiter auseinander gefaltet hat zu einem Bild endgültiger Hoffnungslosigkeit.